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Essays zur Literatur #1

Barbara Frischmuth, die Wiederentdeckung von Italo Calvino

 

Vor einigen Wochen hatte ich einen Traum, in dem ich mich in unserem Amberbaum sah, die Arme um den Stamm gelegt, ihn dabei messend, ob er schon stark genug wäre, eine Buntspechtfamilie zu beherbergen. Oberhalb von mir lag, an einem Ast festgekrallt, die Katze und zuckte mit dem Schwanz, wie sie es immer tat, wenn sie auf Beute aus war.

Ja oder nein, sagte jemand von unten und rüttelte am Baum. Alle Vögel aus der Krone spreizten die Flügel und pfiffen ein Lied, das ich zu erkennen glaubte, dessen Text ich aber vergessen hatte.

Als ich wach wurde, fiel mir Italo Calvino ein. Ich hatte einige Bücher von ihm gelesen, allerdings in den frühen Achtzigern, also vor vierzig Jahren. Plötzlich hatte ich das Gefühl, zumindest eines seiner Bücher wieder lesen zu müssen, der Themen wegen, aber noch mehr war ich an Calvinos Sprache und der Atmosphäre, die sie schuf, interessiert. Ich glaubte, mich an etwas erinnern zu können, was mir damals nicht nur das Lesen, sondern auch das sich Einfühlen leichter gemacht hatte. Ein Umgang mit der Welt, die trotz aller Ecken und Kanten in sich verschränkt blieb. Spruch und Widerspruch, drinnen und draußen, oben und unten, zeitnah und zeitfern, alles brauchbar, um in Balance zu kommen, auch wenn diese ständig in Bewegung blieb und in jede Richtung ausschlug, selbst wenn Beruhigung erwartet wurde.

Je länger ich darüber nachdachte, desto deutlicher empfand ich Calvinos Vorhaben, die Welt als Ganzes darzustellen, samt Mutationen, aber auch den diversen Herkünften. Das fing schon mit den Erzählungen an, in denen der Krieg noch seine grausamen Seiten zeigte und meist niemand über ihn sprechen wollte, schon gar nicht von den vierziger- bis zu den sechziger Jahren, Calvino schon. Ich denke dabei an die beeindruckenden Erzählungen, wie zum Beispiel „Zuletzt kommt der Rabe“, „Dollars und alte Kokotten“ oder „Sie schlafen wie die Hunde“, in denen von der Nachkriegszeit und ihrer, dem Krieg geschuldeten Armut, die Rede ist.

Ich fing wieder an, Calvino zu lesen und statt des einen Buches, an das ich dachte, wurden es sieben. Einige davon besaß ich noch, die anderen holte ich mir in ihrer Taschenbuchform aus der Buchhandlung.

Schon bei der Lektüre von „Abenteuer einer Badenden“, war mir klar, dass ich weiterlesen würde, lesen, solange ich Bücher von Calvino bekommen konnte, und so merkwürdig es auch klingen mag, ich fühlte mich in ihnen als wären sie schon immer meine Wegbegleiter gewesen, auch in Zeiten, in denen ich sie nicht las. Die Vertrautheit mit ihnen war geblieben, auch wenn ich einiges vergessen hatte, aber das konnte man ja nachlesen.

Calvinos Drang nach Universalität lässt sich vor allem bei seinen späteren Werken wie „Die unsichtbaren Städte“, aber auch bei „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ oder „Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen“ erleben. Ich verwende dieses Wort im Sinne der unzähligen Formen des Lebens, von denen man lesend in Erfahrung bringen konnte, was möglich ist, wobei das Mögliche immer nur eine Variante der Varianten ohne Fixierung ist. Was sagen will, dass es so etwas wie einen Stein, der ins Rollen kommt, oder ein erstes Lebewesen gar nicht geben konnte, weil das Mögliche immer schon vielfältig ist.

Genauer ausgedrückt und im Bereich der Literatur nachvollzogen, sind zum Beispiel die Sätze eines Protagonisten (ebenfalls Schriftsteller) aus „Wenn ein Reisender…“: Und was ist mit dem Verbum ‚lesen‘? Wird man je sagen können ‚heute liest es?‘, so wie man sagt ‚heute regnet es‘? Angenommen, es gelänge der Schrift als solcher die Begrenztheit des Autors zu überwinden, so behielte sie gleichwohl nur einen Sinn, wenn sie von einer Einzelperson gelesen wird und deren geistige Strom-oder Regelkreise durchläuft. Nur dass es für ein Individuum lesbar ist, beweist die Teilhabe des Lebendigen an der Macht des Schreibens als Schrift, die sich auf etwas, den Einzelnen Übergreifendes, gründet. Das Universum wird sich so lange ausdrücken können, wie jemand zu sagen vermag: „Ich lese, also schreibt es“.

Auf diese Weise lassen sich viele Sätze über das Lesen und Schreiben in das Leben an sich zurückverfolgen, um es gleichzeitig in den Bereich des Möglichen in die Zukunft zu versetzen, wobei die Zukunft immer weiter in die Möglichkeit vordringt, die jedoch oft über die Realisierung und das Gewesensein stolpert.

Ich musste an den wesentlich jüngeren Emanuele Coccia denken, einen Pflanzenexperten und Philosophen, der möglicherweise von Calvino inspiriert worden ist, als er das Buch „Die Wurzeln der Welt“ schrieb. Sätze wie: „Leben ist im Wesentlichen ein Leben vom Leben der anderen: Leben im und durch das Leben, das andere aufzubauen oder zu erfinden wussten. Das Lebendige charakterisiert sich durch eine Art universellen Parasitismus, ja Kannibalismus: es ernährt sich von sich selbst, betrachtet nur sich, braucht sich selbst für andere Daseinsformen und Daseinswege. Als wäre das Leben in seinen komplexesten, am stärksten ausartikulierten Formen immer nur eine unermessliche kosmische Tautologie.“

Und genau diese Tautologie glaubte ich bei „Der geteilte Visconte“ zu finden, nämlich in den zwei Hälften des Visconte. Ein Schwarzer Rappe, der zeigt, dass sowohl das Schwarze wie auch das Rappige sich sehr ähneln, aber nicht gleich sind. Zu viele Nuancen wechseln und verwechseln einander, was schließlich in einem Satz von Calvino endet: „Von den beiden Hälften ist die gute noch schlimmer als die böse“, während es davor hieß: „ Solltest du jemals zu einer Hälfte deiner selbst werden, und das wünsche ich dir mein Junge, wirst du Dinge verstehen, die der Intelligenz ganzer Hirne verschlossen bleiben. Du wirst dann die Hälfte deiner selbst und der Welt verloren haben, aber die verbliebene Hälfte wird tausendmal tiefer und kostbarer sein. Und auch du wirst wollen, dass alles zerrissen und gespalten sei nach deinem Bilde, denn Schönheit und Weisheit und Gerechtigkeit finden sich nur in der Zerstückelung.“

Bei der Lektüre von Calvinos Werken begegnet man oft der Lust an der poetisch widersprüchlichen Darstellung alles Lebendigen, während die pure Philosophie sich auf höchster Sprachebene eine Weltsicht zu erarbeiten trachtet, die manchmal vor lauter Anstrengung am Lebendigen vorbeischrammt und dann streckenweise austrocknet.

Calvino ist mit seiner Literatur oft sehr nahe an der Philosophie, nur sieht man ihm die Anstrengung nicht an. Seine Figuren prägen sich ein als die verschiedenartigsten Menschen, die es gibt, auch wenn sie in einer artifiziellen Haut stecken. Man glaubt ihnen die Lebendigkeit, freut sich und leidet mit ihnen, als wären sie einer oder eine von uns, auf die man schon lange gewartet hat. Protagonisten, die wie der geteilte Visconte, der Ritter, den es nicht gab oder der Baron auf den Bäumen, stehen in ihrer Skurrilität für etwas, das ohne Tamtam erkannt werden möchte. Das heißt, dass man über sie nachdenken soll, ohne eine eindeutige Lösung zu erwarten.

Der Visconte und der Ritter, deren Verkörperung, das Mögliche überschritten hat, gehören dennoch zu unserer Welt und dienen als Erweiterung unseres Horizonts, der ständig neue Wesen miteinschließt. Die Selbstverständlichkeit, mit der Calvino Figuren dieser Art erfindet, lässt auch seinen Humor nie allzu laut werden, und genau das macht den Charme seiner Geschöpfe so lesens- und liebenswert.

Beim Baron auf den Bäumen geht es erst einmal darum, sich mit der kunstvolle Normalisierung der ‚unmöglichen‘ Figur zu befassen, die einige Etagen höher lebt und sich nur der Natur zu beugen scheint. Interessanterweise hat sich aber mit der Zeit auch die Natur einem Menschenleben anzupassen, denn der Baron, lässt sich Stück für Stück von den Büchern bis zur Kleidung vieles auf die Bäume bringen.

Ein Mensch, der beschlossen hat, nur mehr in einer anderen, für Tiere und Pflanzen erschaffenen, Welt zu leben, ohne dabei der Kultur seines früheren Daseins zur Gänze zu entsagen, bedeutet wohl, dass Natur und Kultur nur schwer zu trennen sind, schon deswegen, weil der Mensch, der die Kultur entworfen und installiert hat, selbst ein Produkt der Natur ist. Allerdings hat er inzwischen vergessen, was er der Natur schuldet, um das dringend notwendige Gleichgewicht halten zu können. Die Kultur, die er erschaffen hat, braucht mehr und mehr Ressourcen auf und gerät dabei immer weiter in den Flächenfraß, mit einer Gier, die an dem weltweiten Klimawandel, den Tieren und Pflanzen enormen Schaden verursacht, in einem Ausmaß, dass in naher Zukunft der Mensch sich die Erde nicht mehr untertan machen wird, sondern die Natur als Akteur die Menschen wieder von sich abhängig machen wird, wie das in frühen Zeiten der Fall war.

All das lässt sich aus der Geschichte des Barons herauslesen und wurde zu einer Zeit geschrieben (1956-57), in der man langsam, viel zu langsam, zu verstehen begann, dass mit der Umwelt Schindluder getrieben wird.

Wann immer ich über ein Buch von Calvino nachdenke, ist das Ergebnis, wie so oft bei großer Literatur, nicht eindeutig. Meist gibt es verschiedene Interpretationen, wie zum Beispiel bei „Die unsichtbaren Städte“, dem Buch der absoluten Diversität. Schon das Szenario gehört zu den ‚unglaublichen‘, historisch nur angehauchten, Begegnungen zweier allgemein bekannter Männer, nämlich Kublai Khan, der Mongolen-Kaiser, und der venezianischen Reisende Marco Polo, der mit seinen 55 Entwürfen für Städte, die es so nicht gibt, Kublai Khan zu zeigen versucht, wie weit das Mögliche gehen kann. Doch der Kaiser ist noch nicht zufrieden, da Polo ihm scheints etwas vorbehält. Wie sich herausstellt, geht es dabei um Venedig, die Stadt, aus der Polo kommt. Worauf Polo zu erklären versucht: „Um die Eigenschaften der anderen zu unterscheiden, muss ich von einer ersten Stadt ausgehen, die inbegriffen ist. Für mich ist das Venedig“.

Mit einem Wort, auch das Mögliche braucht einen Boden, der fest unter den Füßen steht.

Immer wieder diskutieren die beiden Männer über ihre Modelle von Städten in Debatten über das Wahrscheinliche und das Unwahrscheinliche, bis Polo zu einem Calvinischen Ende findet, indem er meint: „Ich brauche also bei meinem Modell nur Ausnahmen zu subtrahieren und habe dann, gleichgültig, nach welcher Reihenfolge ich vorgehe, eine von den Städten vor mir, die, wenn auch stets als Ausnahmeerscheinung, existieren. Doch kann ich mein Unterfangen nicht über eine bestimmte Grenze vorantreiben: Ich würde Städte erhalten, die zu wahrscheinlich sind, um wahr zu sein“.

Mit diesem Satz ist die Literatur von Calvino sozusagen umrissen. Was innerhalb dieser leicht bröckelnden Grenzen entsteht, sind die literarisch-poetischen Details, an denen die Lesenden ihre Freude haben werden.

Barbara Frischmuth

 

Barbara Frischmuth wurde 1941 in Altaussee (Steiermark) geboren. 1967 erschien als erste Übersetzung aus dem Ungarischen das KZ-Tagebuch der Siebenbürger Jüdin Ana Novac im Rowohlt Verlag, ein Jahr darauf ihr erstes eigenes Werk „Die Klosterschule“ bei Suhrkamp. Von da an publizierte sie Romane, Erzählungen, Dramen, Hörspiele und einige weitere Übersetzungen aus dem Ungarischen. Seit 1999 lebt die Autorin wieder in Altaussee.

 

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