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Essays zur Literatur #6

Ilija Trojanow und Gianni Rodaris „Zwiebelchen“

 

Als ich zehn Jahre alt war, wurde ich an der Niere operiert. Ein schwerer und schwieriger Eingriff, nach einer Woche aufwendiger Tests. Danach lag im Krankenbett, zum ersten Mal schwer enttäuscht vom Leben. Mein Vater saß daneben und las mir vor. Auf Bulgarisch, meiner Muttersprache. Ein Buch, das mir meine Großmutter per Post geschickt hatte – wir waren vier Jahre zuvor in den Westen geflohen und Bücher waren das einzige Produkt aus der Mangelwirtschaft meines Herkunftslandes, mit dem sie mich und uns beglücken konnte.

Ich kannte das vorgelesene Kinderbuch schon, die Figuren darin waren höchst ungewöhnlich und daher unvergesslich: Kirschen und Radieschen, Apfelsinen und Erbsen. Limonen und Trauben. Sowie ein Herr namens Kürbis, der immerzu seufzt, eine melancholische Figur, die schon zu meinem Liebling geworden war. Beschrieben wird eine Welt, die mir einerseits bekannt vorkam und doch andererseits auf den Kopf gestellt schien. Es gibt einen Schuster, so weit so normal, aber auch einen Vater Tausendfüßler, der für seine Kinder neue Schuhe in Auftrag gibt. Das überfordert selbst den fleißigsten Schuster. Ein rachsüchtiger Fürst namens Zitrone regiert, ein Junge namens Zwiebelchen protestiert. Es entstehen jede Menge Konflikte und Verwicklungen, die alles andere als niedlich oder harmlos sind, und doch brachte mich das Buch zum Lachen. Immer wieder und so sehr (kein Schmunzeln, sondern berstendes Wiehern), dass meine Wunde schmerzte. Worauf ich aufschrie, mein Vater möge aufhören vorzulesen. Was er sofort tat. Bis der Schmerz verklang und ich ihn unweigerlich bat, weiterzulesen. So ging es über Tage hinweg, ich genoss jede der vielen witzigen Szenen mit Schmerzen.

Wer einem Kinderbuch nicht so viel wilden Humor zutraut, der möge sich vorstellen, dass Zwiebelchen und seine Freunde eines Tages das Häuschen von Kürbis auf einen Karren in den Wald schieben, um es vor der machtgierigen Tomate zu verstecken. Sie vertrauen es dem Herrn Heidelbeere an, dem – kaum ist er wieder allein im Wald – der Fluch des Eigentums aufgeht: „Jetzt, da ich ein so großes Haus habe, werden sie bestimmt kommen, um mich auszurauben.“ Was also tun? Er befestigt einen Zettel an der Haustür, mit der Bitte an die Diebe, sie mögen das Glöckchen läuten, dann werde er sie hereinbitten und ihnen zeigen, dass es in diesem Häuschen nichts zum Stehlen gibt. Gegen Mitternacht wird Herr Heidelbeere von Unbekannten geweckt:

„Wer da“, fragte er und trat ans Fensterchen.
„Hier sind Diebe“, antwortete eine unheimliche Stimme.
„Ich komme sofort. Gedulden sie sich ein wenig, bis ich meinen Schlafrock angezogen habe“, sagte Herr Heidelbeere beflissen.

Die Diebe erkennen enttäuscht, dass es hier nichts zum Holen gibt. „Ich bedauere es ebenso, glauben Sie mir“, sagt Herr Heidelbeere, der ihnen zum Trost und Abschied eine Rasierklinge schenkt, eine Erbschaft seines Urgroßvaters. Worauf sich die Diebe rasieren und mit Dankesworten verabschieden. „Im Grunde genommen waren es zwei gute Kerle.“ Zwei Stunden später bimmelt es wieder. Zwei andere Diebe. Ohne Bart und ohne Jackenknöpfe, so dass Herr Heidelbeere ihnen Nadel und Faden schenkt und sie darauf hinweist, beim Gehen stets auf den Boden zu schauen, denn dort finden sich viele Knöpfe.

Gianni Rodari heißt der Autor und „Cipollino“ (Zwiebelchen) sein grandioses Kinderbuch, eine freche Gemüse- und Obstparabel, die mir die befreiende Kraft der Fantasie aufzeigte. Meine Eltern mussten es mir immer wieder vorlesen, weil ich das kyrillische Alphabet nicht entziffern konnte. Als ich mir viel später selber die kyrillische Schrift beigebracht habe, mithilfe eines Lehrbuchs für die erste Klasse (das mit „Ma-ma“ begann), habe ich als erstes „Zwiebelchen“ gelesen. Buchstaben um Buchstaben, Wort um Wort genossen, wirkte das Lieblingsbuch meiner Kindheit weniger lustig, dafür weiser. Es erinnert mich heute an George Orwells „Farm der Tiere“, ein Buch, das so kanonisch geworden ist, es gab – als vor kurzem die Rechte frei wurden – gleich drei neue deutschsprachige Übersetzungen. Für eine der Ausgaben habe ich ein Vorwort geschrieben und zu diesem Anlass die beiden Bücher miteinander verglichen. Ein Unterschied ist offensichtlich: „Zwiebelchen“ ist für Kinder geschrieben, „Farm der Tiere“ hingegen für Erwachsene, auch wenn es sich als Fabel verkleidet. Während George Orwells Vision von der englischen Viehwirtschaft ausgeht, von dem berühmten „livestock farming“ (er selber hat selbst während des Kriegs im Londoner Hinterhof Hühner gehalten), entzündet sich Gianni Rodaris Fantasie an einem opulenten italienischen Bauernmarkt, auf dem die vielen Gemüse- und Obstsorten in den Tragen mit einem Taktschlag zum Leben erwachen, um die Kinder zu erwecken – während Orwell eher die Erwachsenen aufschrecken wollte. Aber hinter diesen beiden deftigen und dramatischen Geschichten, denen einerseits Ironie und andererseits Humor nicht fehlen, lauert eine bedingungslose Aufklärung. Über Herrschaft und Ungerechtigkeit. Über das grimmige Zwanzigste Jahrhundert und seinen vielen Schrecken. Über die Schwäche und den Mut von Menschen. Über die tiefe Trauer, dass es solche Missstände weiterhin gibt. Allerdings ist Gianni Rodaris Buch optimistischer, weil der Autor nicht nur die Notwendigkeit, Widerstand zu leisten, plastisch sichtbar macht, sondern auch die anarchischen Mittel des Widerstands aufzeigt. George Orwells Fabel ist hingegen zutiefst deprimierend.

Das hat einiges mit der Biografie des Autors zu tun, wie ich viel später herausgefunden habe. Gianni Rodari war ein typischer italienischer Intellektueller, der einige Jahre in einem Priesterseminar verbrachte, bevor er im Mai des Jahres 1944 in die Kommunistische Partei Italiens eintrat. Er war ein Leben lang engagierter Schriftsteller, der sich bewusst auf Kinder- und Jugendbücher spezialisierte, um die Menschen früh schon positiv zu beeinflussen, mit dem erklärten Ziel, „die Kinder dieser Welt lächeln zu sehen“. Außerhalb Italiens wird er leider nicht annähernd so geschätzt und gewürdigt, wie er es eigentlich verdient hätte (und wie sehr er heute in Italien gelesen wird, entzieht sich meiner Kenntnis). Interessanterweise ist er im Osten Europas um einiges bekannter als im Westen, was vor allem mit den kulturellen Grabenkämpfen und geistigen Grenzziehungen während des Kalten Krieges zu tun hat. Bemerkenswert, dass selbst die Rezeption von Kinderliteratur von politischen Haltungen und Stellungen abhängt. Noch 1992, also ein Jahr nach dem Zusammenbruch des Systems und der Sowjetunion, widmete die russische Post Cipollino eine wunderschöne Briefmarke: rechts das grinsende Zwiebelchen, dahinter die grummelnde Tomate. Vorne Zukunft, hinten Vergangenheit, so habe ich es damals verstanden.

Seit jenen schmerzhaft-lustigen Tagen nach schwerster Operation im Krankenhaus habe ich oft an „Cipollino“ gedacht, an die Abenteuer des Helden (die teilweise an jene von Till Eulenspiegel erinnern) und an die Einsichten (die mir übrigens profunder erscheinen als jene von Pinocchio), die mir in diesem Buch vermittelt wurden und die sich in meinem Leben Mal ums Mal bestätigt haben: „Denn auf der Welt gibt es viele Schurken. Und die, die wir fortgejagt haben, könnten ja auch einmal wiederkommen.“

Dieses wunderschöne Buch endet mit einer glorreichen Utopie. Kürbis muss nicht mehr seufzen, der bösen Tomate wurde letztlich verziehen und das grässliche Schloss ist zu einem Haus zum Spielen umgewandelt worden. „Es stimmt, dass es noch andere Schlösser auf der Welt gibt und andere Schurken außer den Zitronen, aber sie werden alle nacheinander verschwinden und in ihren Parkanlagen werden die Kinder spielen. So soll es sein.“

Dem kann ich mich nur anschließen.

BRAVO, MAESTRO RODARI!

Ilija Trojanow

 

Ilija Trojanow wurde 1965 in Sofia geboren, 1971 flüchtete er mit seinen Eltern aus Bulgarien nach Deutschland und wuchs in der Folge in Nairobi auf. E studierte Jura und Ethnologie in München. 1989 gründete er den Marino Verlag für Bücher über Afrika. Als Autor, Übersetzer und Publizist lebte Ilija Trojanow von 1998 bis 2003 in Bombay, von 2003 bis 2006 in Kapstadt. Seit 2008 ist er in Wien und Stuttgart zu Hause. Er verfasste Romane, Essays und Dokumentationen für das Fernsehen sowie das Libretto für die Oper Masque, von Hans Huyssen (2005). Trojanow wurde mit zahlreichen wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter der Adelbert-von-Chamisso-Preis und der Heinrich-Böll-Preis. Dazu hat er Gastprofessuren in St. Louis, Dartmouth, Berlin und Kassel inne; er hält Vorlesungen an der NYU in New York, der Universität Tübingen sowie an der Filmakademie Wien. Sein Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt.

 

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