Tanja Paar und Antonio Scuratis “M. Der Sohn des Jahrhunderts”
„M. Der Sohn des Jahrhunderts“ ist ein Buch, das mein politisches Denken verändert hat: Der italienische Autor Antonio Scurati schildert darin die Biografie von Benito Mussolini und zeigt den erschreckenden Aufstieg der Faschisten in Italien. Antonio Scurati studierte Philosophie in Mailand. Er promovierte mit einer Dissertation über Texttheorie an der Universität Bergamo. 2008 wechselte er an die Libera Università di Lingue e Comunicazione wieder zurück nach Mailand und lehrt dort als Dozent für Kreatives Schreiben und Rhetorik.
Das ist insofern relevant, als er mit seinem Roman eine völlig ungewöhnliche Form wählt. Das Buch ist zwar als „Roman“ tituliert, geht aber schriftstellerisch einen sehr eigenwilligen Weg: Autofiktionale Szenen wechseln sich mit originalen Zeitdokumenten, das heißt Briefen, Zeitungsartikeln oder Parlamentsreden ab. Das schafft einen sehr speziellen Effekt, der zwischen Nähe und Distanz zum beschriebenen Stoff changiert. Werden auf der einen Seite die historischen Fakten nüchtern dargelegt, gibt es auf der anderen Seite „autofiktionale“ Passagen, in denen geschildert wird, was Mussolini zum Beispiel mit seiner Geliebten Margherita Sarfatti erlebt oder bespricht, die ihn in seiner Anfangszeit sehr unterstützte und in die sogenannten besseren Kreise einführte – also Szenen, über die der Autor per se nicht Bescheid wissen kann, weil niemand außer den beiden anwesend war.
Das Wissen um diese Unmöglichkeit mindert aber nicht den Effekt, wir fühlen uns als LeserInnen dem Geschehen ganz nah und erfahren sozusagen intime Einblicke. Diese werden mit der betont nüchtern gehaltenen Einfügung von Zeitdokumenten gegengeschnitten. Diese Form ist meines Wissens nach einmalig für einen „Roman“ dieser Art und interessiert mich als Germanistin besonders. Sie führt auch dazu, dass Männer, die bekanntermaßen ja meist eher zum Sachbuch greifen als zum Roman, dieses Buch sehr gerne lesen. Mir wurde es zum Beispiel von einem Freund, dem Bildhauer Christoph Steinbrener von der Künstlergruppe Steinbrener, Dempf und Huber empfohlen.
Ich weiß noch, dass er an einem heißen Sommertag im Weinviertel das Buch den ganzen Tag nicht aus der Hand legte und begeistert davon erzählte. Was dazu führte, dass ich es an einem ebenso heißen Sommertag am Meer nicht mehr aus der Hand legen wollte. In der Hardcoverausgabe ist dies allerdings schwierig, da das Buch über 800 Seiten hat und 750 Gramm auf die Waage bringt. Es ist also wirklich schwer zu halten und gerade bei großer Hitze nicht besonders handlich. Deswegen würde ich, obwohl ich gedruckte Bücher liebe, in diesem Fall gerade auf Reisen eine E-Book-Ausgabe empfehlen.
Das Gesamtwerk über Mussolinis Leben war von Scurati immer schon auf drei Bände angelegt. „M. Der Sohn des Jahrhunderts“ behandelt die frühen Jahre 1919-1925. Es war für mich sehr spannend zu lesen, dass Mussolini als junger Mann Sozialist war und wie er sich in den Zeitläuften verändert hat. Obwohl die Faschisten in den Anfängen nur wenige tausend Mann umfassten, gelang es Mussolini mit medialem Geschick und Skrupellosigkeit, die in sich zerstrittene Linke nach und nach auszuschalten. Besonders ergreifend ist es zu lesen, wie die Schwarzhemden auch vor roher Gewalt nicht zurückschreckten und so eine zahlenmäßige Übermacht überrumpelten. Mussolini bediente sich dabei der orientierungslosen, teils verrohten Kriegsheimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg. Anders als in Frankreich, wo jeder einzelne Soldat nach dem Krieg durch den Arc de Triomphe in Paris ziehen durfte, erwartete die Männer in Italien nichts als Hunger und Elend. Weder wurden sie geehrt, noch gab es für die meisten Versehrten Kriegsrenten oder Unterstützungen.
Mussolini bediente sich geschickt dieser Verzweifelten, die immer öfter nicht Anhänger der Linken, sondern der Faschisten wurden. Mussolini schreckte dabei auch nicht davor zurück, bei Angriffen auf große Demonstrationen der Internationale aus dem Hinterhalt auf Frauen und Unbewaffnete schießen zu lassen. Scurati beschreibt eindringlich, wie zu seiner Skrupellosigkeit großes Geschick mit der Macht der Medien kam: Mussolini war selbst Journalist gewesen und erkannte schnell die Bedeutung einer eigenen Zeitung, die seine eigene politische Propaganda verbreitete, heute würden wir sagen: Fakenews.
Auch das hat mich als ehemalige Journalistin, ich war viele Jahre Redakteurin bei der Tageszeitung Der Standard, davor bei Falter und Profil, sehr betroffen gemacht. Es zeigt einmal mehr, wie die gezielte Manipulation der Bevölkerung großen Schaden anrichten kann und welche wichtige Funktion Qualitätsmedien zukommt. Eine ausgewogene und gut recherchierte Berichterstattung ist gerade in Zeiten von Social Media, wo Inhalte von Einzelnen völlig ungeprüft und geteilt werden, wichtiger denn je. Ich habe mich bei der Lektüre gefragt, ob Mussolinis Aufstieg und Erfolg auch ebenso hätte stattfinden können, wäre er nicht ein derart geschickter Manipulator, Schreiber und Redner gewesen.
Dazu kam das Versagen der bürgerlichen Parteien und der völlig zerstrittenen Linken ebenso wie des Königs, der zweimal die Unterschriften zu entscheidenden Dokumenten verweigerte und so den Weg für Mussolini ebnete.
Als Schriftstellerin, die selbst einen Roman mit historischem Inhalt verfasst hat – „Die zitternde Welt“ spielt im Osmanischen Reich von der Jahrhundertwende bis ins Jahr 1940 – hat mich besonders die genaue Recherche Scuratis beeindruckt. Obwohl er kein Historiker ist, verschafft er sich penibel einen Überblick zur Quellenlage, der enorme Faktenreichtum macht die Lektüre nicht durchgehend zu einem Vergnügen, da ja auch der Inhalt – der Aufstieg des Faschismus – bitter zu lesen ist.
Zum Glück hat Scurati also immer wieder die leichteren, autofiktionalen Passagen eingewebt, die ein lebendiges und teils erschreckendes Bild der damaligen Zeit malen. Das Versagen der staatlichen Institutionen, Mord und Totschlag teils ohne Konsequenzen auf offener Straße, marodierende Banden, die politische Gegner in deren Häusern aufsuchen und vor den Augen ihrer Kinder umbringen – diese Zustände sind heute in unserem Leben in Mitteleuropa zum Glück kaum mehr vorstellbar. Umso schmerzlicher ist es zu lesen, dass dies noch vor gerade einmal hundert Jahren möglich war. Das Buch ist für mich also auch eine Warnung, wie dünn der Lack der Zivilisation ist und wie schnell die Bestie im Menschen zum Vorschein kommen kann, wird sie erst einmal frei gelassen.
Schilderungen, wie die Faschisten politische Gegner folterten, verspotteten und teils auf Autos gebunden über die Dörfer fuhren, um sie der Lächerlichkeit preiszugeben, sind bei der bloßen Lektüre schwer auszuhalten. So wurde Stärke demonstriert und der Gegner demoralisiert – leider mit Erfolg. Durch das mangelnde Eingreifen der Polizei und anderer staatlicher Ordnungsorgane, die Unterwanderung der Justiz, dem berühmten „Marsch auf Rom“ 1922 gelangte Mussolini an die Macht. Das zu lesen machte mich bisweilen atemlos. Die Lektüre ist also trotz der vielen unerfreulichen Fakten sehr spannend.
Einziger Wermutstropfen: Teil eins behandelt nur die Jahre 1919-1925. Im italienischen Original ist der Roman 2020 herausgekommen, die deutsche Übersetzung erschien im renommierten Klett-Cotta Verlag. Die Übersetzung übernahm Verena von Koskull. Obwohl ich fließend Italienisch spreche, habe ich das Buch aufgrund der historischen Komplexität auf Deutsch gelesen, spannend wäre sicher eine Vergleichslektüre in beiden Sprachen. Da das Buch so umfangreich ist, habe ich das bisher noch nicht geschafft, nehme es mir aber vor. Umso härter war es wegen der vorerst noch nicht erfolgten Übersetzung auch, auf den zweiten Teil zu warten. Dieser ist inzwischen in der deutschen Hardcoverausgabe ebenfalls bei Klett-Cotta erschienen.
Antonio Scuratis „M. Der Mann der Vorsehung“, Teil zwei seiner Mussolini Biografie, ist härter noch als Teil Eins zu lesen und beschreibt die Jahre 1925 bis 1932. Behandelt wird Mussolinis Machtergreifung bis zur endgültigen Ausschaltung des Parlaments – unter tatkräftiger Mithilfe des italienischen Königshauses. Die Rolle von Vittorio Emanuele III. ist dabei mehr als unrühmlich: an mehreren Stellen hätte er den weiteren Aufstieg der Faschisten stoppen können, blieb jedoch untätig. Beeindruckend ist abermals die stilistische Form, die der Philosoph Scurati auch hier wählt: historische Dokumente, Parlamentsreden, Briefe, Zeitungsartikel wechselt er mit fiktionalen Passagen aus Sicht der Zeitgenossen ab. So wird eine Nähe erzeugt, die der Leserin manchmal ob der geschilderten Gewalt fast zu viel wird. Aber: da muss Frau, da soll man durch! Ungemein lehrreich und beängstigend.
Für „M. Der Sohn des Jahrhunderts“ erhielt Scurati in Italien den renommierten Premio Strega. Das Buch wurde – zu Recht wie ich meine – in viele Sprachen übersetzt und weltweit kontrovers diskutiert. Manche stoßen sich an der eigenwilligen Form, die eben nicht wie ein Sachbuch funktioniert, aber auch kein klassischer Roman ist. Darin liegt meiner Meinung nach aber die große Stärke dieses gewagten Projektes über Mussolini: Es erschließt sich einer sehr diversen Leserschaft, Sachbuch – wie RomanleserInnen kommen auf ihre Kosten. Eine unbedingte Empfehlung! Ich freue mich schon sehr auf Teil drei.
Tanja Paar
Tanja Paar wurde in Graz geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie und arbeitete u. a. am Theater, für diverse Publikationen, als Journalistin und Moderatorin. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Wien. Ob an den Rändern der Kontinente, zu Zeiten großer politischer Umbrüche oder in den nur scheinbar kleinen Dramen des Alltags: Die Figuren in Tanja Paars Romanen stehen vor inneren und äußeren Grenzen – und vor der Frage, wie sie sich überwinden lassen. 2018 erschien ihr Debütroman „Die Unversehrten“, 2020 folgte “Die zitternde Welt”. 2021 erhielt sie den deutschen Robert Gernhardt-Preis für ihren Roman „Der Ziegenzirkus“. 2023 wurde sie von der Stadt Wien mit dem Elias-Canetti-Stipendium ausgezeichnet.