Mieze Medusa und Lara Cardellas „Ich wollte Hosen“
Vom Wollen von Hosen
Die Welt ist groß. In ihr gibt es sehr viele Bücher. Deshalb sind wir angewiesen auf Empfehlungen und Geschenke. Wir sind darauf angewiesen, dass Menschen uns ihre Lektüren ans Herz legen.
Lara Cardella war so ein Geschenk. Es wurde mir von meiner Mama ans Herz gelegt. Ich bin nicht sicher, ob sie es selbst gelesen hat. Ich nehme an, sie hat im Radio davon erfahren. Ihr Lieblingsradiosender war Ö1. Beim Kochen hörte sie Radio (Ö1), beim Bügeln schaute sie fern (Quizsendungen). Sie hatte natürlich ein Leben außerhalb des Haushalts, aber sie hätte sich wiedergefunden in den Schilderungen des Heranwachsens in – wie man bei uns verschämt sagt – bescheidenen Verhältnissen. Ich weiß nicht, ob sie sich mit dem Heranwachsen geplagt hat, sie war ja schon erwachsen, als ich sie kennenlernte, aber sie wohl geahnt, dass Lara Cardellas Buch für mich interessant sein könnte. Volevo i pantaloni ist 1990 in Christel Gallianis deutschsprachiger Übersetzung erschienen ist, hat Ö1 wohl berichtet, die Mama hat zugehört und ich hatte ein neues Buch und eine Riesengroße Freude damit. Mama hat sich damals vielleicht gedacht: Die Tochter ist auch grad rebellisch, die tut sich auch grad schwer mit dem Mädchen-sein und Frau-werden, das passt doch.
Vielleicht hat sie sich aber auch gedacht: Die Tochter darf natürlich Hosen tragen, wenn sie will. Ihr Zimmer hat eine Tür, den Schlüssel haben wir zwar versteckt, weil: Was, wenn es brennt, aber wir klopfen, bevor wir reingehen. Soll sie mal sehen, wie gut es ihr geht.
„Es war eine zu hohe Mauer zwischen Frausein und Personsein; es gelang mir nicht mich anzupassen.“
Verschlungen habe ich das Buch. Mit was für einem Tempo und direktem Blick erzählt uns die Autorin Lara Cardella von „ihrem“ Dorf, das wir nicht kennen, in dem wir aber sofort orientiert sind. Wir kennen die Schule, die Gedankenwelt, die Träume und die stechende Sonne. Wir kennen den Gott des Dorfes und den Gott, der dem Mädchen nah ist und es bedingungslos akzeptiert. Wir kennen den Stillstand und den Dorftratsch. Den unerbittlichen Motor der Fantasie, der aus einem hinkenden Kirchgang ein gefallenes Mädchen macht und nicht, weil das Mädchen wirklich gefallen ist und sich dabei verletzt hat. Wir kennen die Selbstverständlichkeit, mit der Gewalt den Alltag der Schülerinnen bestimmt.
Wir sind bezaubert von der Resilienz und dem sprachlichen Witz mit dem Annette, die Ich-Erzählerin im Buch, einen eigenen Blick auf die Welt etabliert. Das wärmt noch heute.
Es hat einen ganz eigenen Reiz, ein Buch, das man sehr jung und sehr begeistert gelesen hat, Jahrzehnte später nochmals zu lesen. Es ist eine Chance, sich selbst zu treffen. In der Version von damals. Was für eine bezaubernde Wiederbegegnung mit den rotglühenden Wangen beim Lesen damals. Mit den eigenen Hoffnungen, Träumen und Ängsten. Unsere Erinnerung ist ein riesengroßer Speicher. Aus dem Stand gefragt, hätten wir wahrscheinlich Schwierigkeiten, den Inhalt des irgendwann gelesenen Buches wiederzugeben, aber beim Wiederlesen springt die Erinnerung an. Das Kribbeln beim Lesen. Ich erkenne die Sätze wieder, sehe immer noch den Witz und die Resilienz, sehe klarer als damals die Gewalt, die völlig normal ist. Die wirklich nicht völlig normal ist, darum geht es ja eben. Davon erzählt das Buch: Das Gewalt und Abwertung von Frauen nicht normal sein darf, dass diese Normalität ein Skandal ist und ein Unrecht.
Damals las ich in Übereinstimmung mit der Ich-Erzählerin: Ich wollte wissen, warum so getan wird, als wäre Frausein und Mannsein so unterschiedlich. Warum ich akzeptieren müssen soll, dass der erste Blick Richtung Busen geht und es etwas Außergewöhnliches ist, wenn man mir in die Augen schaut und zuhört, wenn ich rede. Ich wollte wissen, ob das so sein muss. (Muss es nicht!). Was man dagegen tun kann. (Mithelfen, die Gesellschaft umzukrempeln! Tabus brechen! Mädchen und Frauen glauben, wenn sie von sich erzählen. Ein Buch verschenken, dass das alles tut!)
„Ich war nicht sonderlich für Hausarbeit begabt, noch weniger fürs humanistische Gymnasium; vielleicht eignete ich mich für gar nichts, aber irgendetwas musste ich ja tun…“
Es gibt noch einen Grund, warum mir das Buch so ins Herz erzählt hat: Annette, wenn sie sich selbst beschreibt, ist ganz normal. Sie ist nicht besonders schön, sie ist nicht besonders klug, sie will gar nicht viel.
Hosen tragen.
Ein Mann sein, aber vielleicht ist Frausein okay, wenn man als Frau teilnehmen könnte am öffentlichen Leben. Auf der Straße spazieren, Entscheidungen für das eigene Leben treffen, auf eine Party gehen, ein Date haben… Keine sehr großen Sachen, eigentlich. Sollte man meinen.
La Revenge del Dorfklatsches
Wer ist eigentlich der große Widerpart der Wünsche von Annette? Das ganze Dorf. Alle sehen alles, alle reden über alles. Wenn es mal nichts zu sehen geben sollte, dann gibt es immer noch die Fantasie.
„Mein Dorf hat nie viel geboten, keine Freizeitbeschäftigung, keine Vergnügungen, und bei körperlicher Trägheit blüht die Einbildungskraft.“
Darin übrigens ähnelt Lara Cardellas Roman dem Gesamtwerk von Jane Austen: Eine Beziehungsgeschichte eines jungen Paares im Vordergrund während im Hintergrund wie nebenbei ein gesamtgesellschaftliches Tableau aufgezogen wird. Abgesehen von den Passagen über den Dorfklatsch, findet die politische Dimension der Gastarbeit Eingang in den Roman. Der ältere Bruder zieht nach Deutschland, um dort sein Glück zu suchen, aber stattdessen die Arbeit in der Fabrik zu finden, mit der es kaum möglich ist, die eigene, inzwischen gegründete Familie zu ernähren.
Oder das soziale Gefälle Italiens. Die Mitschülerin Angelina, die mit ihren wohlhabenden Eltern aus dem Norden hergezogen ist, ist nicht nur Motor für die Handlung, sie macht einiges sichtbar: Die gesellschaftliche Funktion von Hochsprache und Dialekt, der beschränkte Zugang zu Warmwasser, die Freiheit, die ein eigenes Zimmer (A Room of One‘s Own) und mehr als ein Bad bringt. Der Geruch nach Schweiß, der über dem Dorf hängt. Mit ihr tritt auch die Notwendigkeit in das Buch, eine ganz große Wahrheit an- und auszusprechen: Es ist eine Lüge, dass Mädchen und Frauen im öffentlichen Raum beschützt werden müssen. Die größte Gefährdung geht von der eigenen Familie aus, von den Vätern, den Onkeln, von denen, die vorgeben, Mädchen und Frauen und deren „Ehre“ notfalls mit Gewalt zu beschützen.
Am Ende des Buches finde ich einen Satz wieder, den ich, bei allen Fehlern, die in meiner Inhaltsangabe zu finden gewesen wären, wenn ich das Buch nicht nochmal gelesen hätte, noch hingebracht hätte. Was für ein Ende, was für eine Punchline.
Aber ich verrate sie nicht. Ich lade euch ein, das Buch zu lesen, zu verschenken und weiterzuempfehlen.
Was ich mir selbst empfehle?
Mich auf die Suche zu machen. Was schreibt eine Autorin, die mit 19 zu einer Bestseller-Autorin geworden ist, in den Jahrzehnten danach? Wer sind die neuen Stimmen, von denen ich mir wünsche, dass sie übersetzt werden, weil ich mit ganz wenigen Ausnahmen darauf angewiesen bin, dass Literatur übersetzt wird? Von welchen Büchern wünsche ich mir, dass sie weiterhin gelesen werden? Wem kann ich sie schenken?
Mieze Medusa
Mieze Medusa ist Autorin, Poetry Slammerin und Rapperin. 2022 ist ihr aktueller Roman Was über Frauen geredet wird im Residenz Roman erschienen. Im Mittelpunkt stehen ganz unterschiedliche Frauen, die aktiv ihr Leben gestalten, während sie versuchen, sich so wenig wie möglich darum zu kümmern, was über sie geredet wird.