Questo sito utilizza cookies tecnici (necessari) e analitici.
Proseguendo nella navigazione accetti l'utilizzo dei cookies.

Essays zur Literatur #4

Daniel Wisser und Italo Svevos „Zenos Gewissen“

 

Ich ärgere mich jedes Mal darüber, wenn Literaturkritiker eine Hauptfigur, die unentschlossen ist und Fehlern und Missverständnissen nicht entschieden entgegentritt, als Antihelden oder Rückzugs-Helden bezeichnen. Ich kenne wenige Helden und keinen einzigen persönlich. Die Welt ist also voller Antihelden und die realistische Literatur muss sie daher zwingenderweise zu Hauptfiguren machen.

Es ist ein Glück, dass ich Italo Svevo erst in den letzten Jahren für mich entdeckt habe. So konnte er meine bisherigen Romane nicht beeinflussen. Denn es gibt neben dem schon erwähnten Antiheldentum seiner und meiner Hauptfiguren eine weitere Übereinstimmung zwischen ihnen: Sie kommen aus dem Angestelltenmilieu.

Umso euphorischer las ich Svevos drei Romane. Schon „Ein Leben“ (Una Vita) hat mich tief beeindruckt. Die tiefe Verstrickung von Arbeitswelt und der Unsicherheit, die der jugendliche Erwachsene angesichts einer kapitalistisch organisierten Liebeswelt gegenübersteht, ist ein Phänomen, das in wahrhaftiger Weise zu beschreiben wenige Autoren gewagt haben. Nach zwei Romanen gab Italo Svevo das Schreiben allerdings für fast zwanzig Jahre auf, weil er die bestenfalls lauwarme Reaktion der wenigen italienischen Rezensenten nicht ertragen konnte. Sein Englischlehrer James Joyce hat später in ihm einen verkannten Schriftsteller entdeckt. Und so erschien 1923 Svevos Meisterwerk „Zenos Gewissen“. (Schon die durch im italienischen Titel „La coscienza di Zeno“ angelegte Doppelbedeutung ist nicht ins Deutsche übersetzbar.)

„Zenos Gewissen“ ist mit einer Leichtigkeit erzählt, die es in der deutschsprachigen Literatur kaum gibt, die aber deshalb die Erzählung nicht seicht macht. Ganz im Gegenteil. In diesem Stück Weltliteratur geht um etwas Großes, etwas Bedeutendes, das alle Menschen rühren muss: dass nämlich eine Fehlentscheidung im Leben nicht korrigiert wird, sondern dass man mit diesem Fehler zurechtkommt und ihn sogar als schön oder richtig oder notwendig betrachten kann. In einer Art Antithese zur Therapiebesessenheit und Selbstfindungswut der Psychoanalyse, stoppt der Held Zeno Cosini den Therapieprozess und lebt sein Leben.

Im Haus der Unternehmers Malfenti gibt es vier Töchter, die eines gemeinsam haben: Ihre Vornamen beginnen alle mit A. Die jüngste von ihnen ist ein Kind. Die anderen drei sind junge Damen und Zeno beschließt, sich zu verlieben. Dafür kommen Ada und Alberta infrage, die ihn jedoch beide anlehnen. Im Rahmen einer Séance landet Zenos Liebesgeständnis aus Versehen bei Augusta, die schon lange in Zeno verliebt ist. Sie wird, die hässlichste der drei Frauen seine Gattin und er versucht mit ihr glücklich zu werden, unterhält später doch eine Geliebte, macht sich deswegen Vorwürfe, wird von der Geliebten wieder verlassen, was ihn doch kränkt usw. usf.

Man sieht an dem Versuch der Inhaltsangabe, dass dieser Roman die Aussicht auf eine Kurzdarstellung düpiert. Zu klug und in Wahrheit sehr modern ist seine Konstruktion, die sich der Typologisierung entzieht. Einerseits ist „Zenos Gewissen“ ein Schelmenroman, wofür die autobiographische Form (also die Ich-Erzählung), die Unverlässlichkeit des Erzählers und die am Beginn des Romans zentrale Vatergeschichte sprechen. Andererseits ist das Buch auch ein Entwicklungsroman, der aber die althergebrachten Wege der positiven und der negativen Entwicklung bewusst nicht einschlägt. In einer grandiosen Absage an die Psychoanalyse, mit der der Roman eröffnet, stellt Zeno klar, dass er unheilbar gesund ist. Die gesamte Autobiografie (so das Vorwort eines fiktiven Psychoanalytikers) wird vom Therapeuten Doktor S. aus Rache an seinem Patienten Zeno veröffentlicht. Damit unterläuft Svevo auch die traditionelle Erzählweise und macht das assoziative Denken und seine Wiedergabe wie in einer Therapiesitzung zum Stil des Romans. Viele zeitgenössische Kritiker verstanden das nicht und hielten die Erzählweise für zu umständlich und weitschweifig. Erst als Joyce Svevo französischen Kritikern empfahl, wurde sein Werk richtig eingeschätzt und bewertet.

Dazu kommt, dass Svevos Lakonie und seine Weigerung, die Enttäuschungen und Irrtümer in diesem Leben als tragisch darzustellen, bei den Leserinnen und Lesern das Lachen befördert. Es ist ein Lachen, das nicht das Auslachen anderer ist, sondern die edelste Form des Lachens: das stille und ehrliche Eingeständnis, dass unser Leben lächerlich ist. Das macht „Zenos Gewissen“ bis heute bedeutsam. Und es ist kein Zufall, dass Wilhelm Genazino für die deutsche Taschenbuchausgabe von „Zenos Gewissen“ ein ausführliches Nachwort geschrieben hat.

Große Literatur muss zwei Bedingungen erfüllen: Sie muss in ihrer Zeit die herkömmlichen Formen transzendieren und zu einer neuen und zwingenden Form finden. Und sie muss in einer Art Zeitkapsel die Darstellung ihrer Zeit für spätere Zeiten erhalten und zugänglich machen. Diese Voraussetzungen sind bei Italo Svevo eingelöst. Die blühende Kultur- und Unternehmenswelt, die Triest im Fin de Siècle beherrschte und die durch Krieg, den Untergang der Donaumonarchie und den Faschismus ihren Niedergang fand, kannte bereits die Aporien der Angestelltenwelt, die Abenteuerlosigkeit der Mittelschicht und den Liebesverlust des Wohlstands. Italo Svevo hat sie in „Zenos Gewissen“ für uns auf einmalige Weise festgehalten.

Daniel Wisser

 

Daniel Wisser studierte Germanistik an der Universität Wien. Seit 1990 verfasst er Prosa, Lyrik und radiophone Werke. Für seinen Roman „Königin der Berge“ wurde er mit dem Österreichischen Buchpreis 2018 ausgezeichnet. Seit 2017 schreibt er Artikel zu aktuellen politischen Entwicklungen, die 2022 in dem Band „Tausend kleine Traurigkeiten“ erschienen. Ebenfalls 2022 erschien das Buch „Die erfundene Frau“, ein Konzeptband aus zweiundzwanzig Erzählungen. Als Musiker ist Daniel Wisser seit 1994 Mitglied der Band „Erstes Wiener Heimorgelorchester“.

 

TEXT ALS PDF