Jaqueline Scheiber und Giulia Caminitos „Das Wasser des Sees ist niemals süß“
Dieses Buch geriet mir in die Hände, als ich vor meinem bevorstehenden Wanderurlaub in den österreichischen Alpen durch die Regale meiner Lieblingsbücherei streifte. Ich bin eine wählerische Leserin, sodass es mit der Buchhändlerin meines Vertrauens zu einer liebevollen Gewohnheit wurde, mehrere Runden durch den Laden zu drehen, bis ein Buch auf eine Fläche meines Interesses trifft. „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ wird mir mit Nachdruck empfohlen. Als ich inmitten kantiger Felsbrocken und sattgrünen Tälern, gewärmt von der Herbstsonne, die ersten Seiten aufschlage, öffnet sich ein Sog. Ich ahne nicht, wie nah die erzählte Handlung an meiner eigenen liegt, wie eng verwoben das beschriebene Milieu mit meiner persönlichen Herkunftsgeschichte ist und dass die folgende Reise durch diesen Roman mich nicht in der Rolle der erhabenen Beobachterin lässt, sondern mich dazu auffordert, meine eigenen Erinnerungen an die Oberfläche zu holen und mich mit ihnen zu verbinden. Und womöglich dadurch eine Form der Versöhnung zu ermöglichen.
Giulia Caminito erzählt die Geschichte einer Familie im italienischen Prekariat in einem Vorort Roms und skizziert dadurch präzise und detailreich das Umfeld der Familie in der Chancenlosigkeit, die sich allen Witterungen zu Trotz nicht davon abhalten lässt, die Perspektive offen zu halten und die Arme nach dem „besseren“ Leben zu strecken. Während ich mich der Geschichte annähere, wächst eine Enge und Beklemmung in mir, die Caminito wider meiner Erwartung nicht bereit ist aufzulösen. Im Gegenteil, sie lässt das Unglück und den Schmerz der Arbeiter*innenklasse Italiens entfalten, sie weist sie in ihre Schranken, sie gewährt der Verzweiflung Raum und zeigt die naive Hoffnung, mit der Antonia, die Mutter der Erzählerin, agiert. So gerate ich als Leserin in Kontakt mit fensterlosen, feuchten, beengten Wohnverhältnissen, ich besuche mit Antonia Ämter und sehe durch ihre Augen die Papierstapel, an die auch mein Name, meine Hoffnung und in letzter Konsequenz meine Existenz geheftet sind. Ich höre den Lärmpegel des Alltags, der sich in der Einzimmerwohnung mit vier Kindern, davon zwei Neugeborenen Zwillingen und zwei Erwachsenen zuträgt und beinahe habe ich den Geruch einer von Schimmel durchzogenen Wohnung und der vernachlässigten Gegend am Rande der Stadt in der Nase. Im Zuge der ersten Kapitel erleidet der Vater von Gaia, der Erzählstimme, einen Arbeitsunfall bei der Schwarzarbeit und ist daraufhin querschnittsgelähmt.
„Im Sommer sterbe ich ein bisschen. Es war Mai, als mein Vater in der Mitte entzweibrach, er stürzte von einem Baugerüst. Es war Mai und mein Vater lag rücklings auf dem Boden wie ein Käfer, er bewegte seine Beine ein letztes Mal. Als ein Freund meines Vaters Bescheid gesagt hatte, warteten wir zu fünft an der Haltestelle auf den Bus zum Krankenhaus, der nicht kam. Wir warteten
und warteten. Während Mamma auf und ab lief und uns nicht zu sehen schien. Ihre Gedanken wirbelten und flatterten, sie waren Leinentücher im Wind.“
Die Kreise werden enger, bevor sie sich weiten können. Caminito lässt dadurch gleichermaßen unbarmherzig wie real das Unglück einer Familie unaufhaltsam wachsen, die ohnehin schon gebeutelt ist. Antonia als Figur der Mutter und in weiterer Konsequenz der tragenden Rolle, trifft Entscheidungen und wird dadurch zu einer Instanz, die die Ränder der Erzählung markiert. Stets nur einen ausgestreckten Arm entfernt von dem, was Besserung verspricht; ein Umzug, eine Arbeitsstelle, eine neue Schule für die Kinder, eine Umgebung, ein Kontakt, ein Protest. Antonia vereint in sich die fleischgewordene Charakterisierung einer jungen Frau, die sich selbst nicht mehr als Person begreift, sondern viel mehr als Grundlage der Verantwortung zum Wohle der Familie. Ich kenne diese Art von Frau sehr gut, denn Antonia gleicht in einem erschreckenden Ausmaß der Erinnerung an meine junge Mutter in den Anfängen ihrer Zwanziger. Statt vier Kindern, musste sie nur mich versorgen, wenngleich das mit ausreichend Hürden und Rückschlägen verbunden war. Ich erkenne die tiefe Verbundenheit zwischen Mutter und Tochter, spüre die Bewunderung und erleide gleichzeitig den ebenselben Trennungsschmerz, in der zwingend notwendigen Abnabelung einer so engen Beziehung. Caminito gelingt es dabei die Figur der Mutter in ihrer Vielschichtigkeit zu präsentieren, sie zeigt gezwungenermaßen ihre Härte in Situationen, in denen sie die Steuerung behalten muss und erlaubt der Figur Liebe und weiche Züge, wenn sie mit einer warmherzigen und entschlossenen Geste für die Familie einsteht. „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ lässt einen Bildungsroman vermuten, der den Übergang in eine andere Schicht durch harte Arbeit und Zugang zur Hochschulbildung ermöglicht. Doch das bleibt ein Trugschluss. Denn selbst als Gaia die Möglichkeit erhält, durch einen Hochschulabschluss sich von dem Arbeiter*innenmilieu zu entfernen, gelingt ihr das Ankommen im Bildungsbürgertum nicht. Ihre Art Konflikte zu lösen oder ihre Emotionen (nicht) zu zeigen, enttarnen sie und bilden eine unzerstörbare Verbindung zu ihrem Ursprung.
In „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ erlaubt Giulia Caminito der Hauptprotagonistin Wut, Gewalt und Zerstörungswille. Seltene Eigenschaften für Frauen in der Literatur. Noch seltener, dass sie dadurch nicht zur Bösewichtin erklärt werden. Sie ermöglicht der Figur, einer heranwachsenden Frau der Gegenwart, die einzig mögliche Antwort auf die einwirkenden Einflüsse aller Himmelsrichtungen: Ärger. Gaia ermächtigt sich ihrem Schicksal nicht etwa durch die Chance auf einen Schichtwechsel, oder das Ergreifen ihrer Talente, sie ermächtigt sich ihrem Schicksal, in dem sie die Gewalt, die ihr durch ihr Umfeld angetan wird, spiegelt. Sei es in eine wachsende Kriminalität oder den ungeschönten und nüchternen Blick, mit dem sie den vermeintlichen Wundern des Lebens begegnet. Beinahe unbeeindruckt und gleichsam leidenschaftlich setzt die Erzählstimme mich als Leserin in das Zentrum einer Fahrkabine, in der die Jahre, Bilder und Auswüchse ihrer, nur an mir vorbeiziehen. Gesehen, aber unkommentiert.
Es ist schließlich ein Sozialroman, der unverfälscht diagnostiziert und dabei dem Kitsch entkommt. Caminito erklärt nicht oder kommentiert, wie es viele andere Romane dieser Art tun müssen, um den Umstand dieses unfreiwilligen Lebens zu bewerten. Mit „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ gelingt ihr ein bis in die Nebenfiguren glaubwürdiges, weil erzählendes Buch, das von einer gesellschaftlichen Lüge weiß, an die wir alle glauben: Mit guter Bildung eröffnet sich ein Potpourri an Möglichkeiten. Eine Möglichkeit ist allerdings noch lange keine Wahrheit.
„Das Wasser des Sees ist niemals süß. Man sagt nur, es sei Süßwasser, aber das ist eine Lüge. Das Wasser schmeckt nach Benzin. Wenn man ein Feuerzeug daranhielte, ginge es in Flammen auf.“
Als Autorin bleibt vor allem die Geschwindigkeit der Erzählung und der Scharfsinn für die richtige Menge an Beschreibung nach dem Lesen in mir übrig. Caminito sagt an keiner Stelle zu viel oder zu wenig. Es wirkt unangestrengt, natürlich, es wirkt, als wäre dieses Buch in einem Atemzug entstanden, so, wie es ohne Weiteres in einem Atemzug gelesen werden kann.
Als Arbeiter*innenkind bleibt die Wärme, die sich zwischen vermeintlich harte Gesten schiebt und mich dadurch an etwas erinnert, was ich zu lange abzustreifen versuchte. Es bleibt ein Nachgeschmack von Versöhnung, der den Schauplatz einer dieser Geschichten, wie sie meine ist und wie sie die von Gaia zeigt, nicht zu einer Tragik verkommen lässt, sondern zu einem Leben, das inmitten von uns existiert.
Ein Roman, der auf jeder möglichen Ebene veranschaulicht, was Sprache kann. Erzählen, Beschreiben, Mitnehmen, Berühren, in die Enge drängen und Freilassen.
Jaqueline Scheiber
Jaqueline Scheiber lebt in Wien, ist Autorin und Sozialarbeiterin. Sie schreibt auf dem Instagram Account @minusgold, als Internetpersona die das (Mit)teilen und Beschreiben von privaten Gedanken mit einer breiten Öffentlichkeit möglich macht. Dabei liegt das Augenmerk vor allem auf existentiellen Themen wie psychischer Gesundheit, Kunst und Kultur, Tod, Entwicklung und Selbstbildnis. Jaqueline Scheiber war sieben Jahre in der Praxis der Sozialen Arbeit tätig. Dazu war sie an der Begründung und Organisation des Young Widow_ers Dinnerclub Wien beteiligt. Kerngebiete der Auseinandersetzung auf Social Media und in Texten sind der Diskurs (weiblicher) Körpernormen, die Sichtbarkeit (junger) Trauer in der Gesellschaft, psychische Gesundheit und Erkrankung. Monatlich publiziert sie außerdem die Kolumne “Sprachgewitter” beim BAM Magazin.