Stefan Slupetzky und Umberto Ecos „Der Name der Rose“
1. Wie man sich mit einem Buch verirrt
Fast vierzig Jahre ist es her, dass mich eine Verliebtheit in den Nachtzug nach Bologna steigen ließ. Ich sage absichtlich Verliebtheit und nicht Liebe, denn zur Liebe zwischen Elena (so hieß die junge Kunststudentin, der meine Verliebtheit galt) und mir sollte es niemals kommen. Daran ist Umberto Eco schuld.
Ein Freund hatte mir den neu erschienenen Roman „Der Name der Rose“ geliehen, um mir die lange Zugfahrt zu verkürzen (dass er sie mit seiner Leihgabe verlängern würde, konnte er nicht wissen), und noch vor der Grenze war ich so versunken in das Buch, dass ich auf meinem Sitzplatz blieb, statt mich zum Schlafen in den Liegewagen zu begeben. Manchmal zweifle ich daran, dass ich tatsächlich noch im Zug saß, denn mein Geist streifte mit dem jungen Adson von Melk und dem humorvoll-weisen William von Baskerville durch düstere mittelalterliche Labyrinthe, um den Mörder eines Klosterbruders aufzuspüren. Ich muss gestehen, dass mich der reine Kriminalfall damals weit mehr interessierte als die philosophischen, historischen und theologischen Passagen des Romans, was aber auch den Vorteil hatte, dass ich Ecos Buch in späteren Jahren noch einmal für mich entdecken konnte. Aber dazu später.
Nicht nur die gespenstische, beängstigende Stimmung und die eindringlich gezeichneten Figuren zogen mich in ihren Bann, ich fieberte auch mit dem jungen Adson mit, den eine nächtliche Begegnung mit einer namenlosen jungen Frau in tiefen Liebeskummer stürzt. Und William von Baskerville gewann mit seinem Scharfsinn und mit seiner feinen Ironie mein Herz.
Es war schon kurz nach fünf Uhr morgens, als der Nachtzug in Bologna einfuhr. Ich aber befand mich hundert Kilometer weiter westlich, in einer Gebirgsabtei im Apennin. Mit anderen Worten: Ich war hundert Kilometer weit von Elena entfernt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein Mädchen für ein Buch vergessen.
Eine Stunde später war das Kloster abgebrannt, und William von Baskerville hatte den Fall gelöst. Durchdrungen von den Bildern meiner nächtlichen Lektüre stieg ich aus dem Zug.
So lernte ich Florenz kennen. Und nach drei Tagen, die ich im Palazzo Vecchio, in den Uffizien und in Santa Maria del Fiore zugebracht hatte, trug ich mich tatsächlich mit dem Gedanken, weiter nach Ligurien zu reisen, um – einen nicht allzu großen Zeitsprung von der Renaissance ins späte Mittelalter wagend – nach dem Schauplatz von Ecos Roman zu suchen. Eine Rückfahrt nach Bologna hätte nichts gebracht, weil Elena nach drei Tagen wohl nicht mehr in der Bahnhofshalle auf mich wartete, und weil die segensreiche Zeit der Handys 1983 noch nicht angebrochen war.
Ich unterließ die Weiterreise nach Nordwesten schließlich doch und fuhr nach Wien zurück. Was insofern ein Glück war, als das von Umberto Eco zwischen Lerici und La Turbie verortete Benediktinerkloster niemals wirklich existiert hat. Mich also in bruchstückhaftem Italienisch bei den Einheimischen danach zu erkundigen, hätte mir nur Achselzucken und verständnislose Blicke eingetragen.
2. Wie man sich mit einem Buch blamiert
Dass der als rückblickender Bericht des greisen Adson ausgegebene Text und damit auch der Schauplatz des Romans reine Fiktion sind, war mir also damals in Italien nicht bewusst. Ich sollte mich mit diesem meinem Unwissen aber erst Jahre später auseinandersetzen müssen, und der Grund dafür war eine weitere Verliebtheit.
Ich hatte mein Studium beendet und als Kunstlehrer an einer Wiener Schule angeheuert. In den ersten Tagen fiel mir eine junge Frau im Lehrerzimmer auf – wir wollen sie Frau Magistra Müller nennen –, weil sie nicht nur ausgesprochen hübsch war, sondern auch humorvoll, klug und sehr gebildet. Mehr noch: Ihre feinen, leicht ironischen Bemerkungen erinnerten mich an Umberto Ecos Helden William von Baskerville, und als ich mich nach Wochen schüchterner Zurückhaltung dazu ermannte, sie auf diesen Umstand anzusprechen, reagierte sie nicht nur mit einem halb geschmeichelten, halb amüsierten Lachen, sondern auch mit der Bereitschaft, sich von mir in ein nahegelegenes Kaffeehaus einladen zu lassen, um über das Buch zu plaudern.
Daran, dass meine Verliebtheit auch bei Frau Magistra Müller nicht zur Liebe reifte, trug Umberto Eco diesmal nicht die Schuld. Es war es mein eigener Fehler, denn mein Unvermögen, den Roman in all seinen Facetten, seinem intellektuellen Tiefgang und seinen historischen Zusammenhängen zu begreifen, konnte Frau Magistra Müller (ihre Fächer waren Geschichte und Philosophie) natürlich nicht verborgen bleiben. Eine halbe Stunde am Kaffeehaustisch, und ich war als Ignorant entlarvt. Wenn „Der Name der Rose“ ein Fundus der geistigen Perlen war, dann wirkte ich wohl wie die sprichwörtliche Sau, vor die man sie geworfen hatte. Frau Magistra Müller sprach mit mir im selben Tonfall wie mit ihren Schülern, und falls sie mich mochte, dann doch nur auf eine Art, wie sie auch ihre Schüler mochte. Sie versuchte, mir die religiösen und politischen Konflikte darzulegen, die das ausgehende Mittelalter prägten, und umriss den auch von Eco eindringlich thematisierten Glaubensstreit zwischen dem Römisch-deutschen Kaiser und dem Papst. „Es war die dunkle Zeit der Denkverbote“, sagte sie zum Schluss, „wobei sich das Verderben solcher Denkverbote erst ermessen lässt, wenn man einmal zu denken angefangen hat.“ Sie schenkte mir ein vielsagendes Lächeln, dankte mir für den Kaffee und ging.
Am selben Abend noch nahm ich das Buch aus dem Regal (schändlicherweise hatte ich es meinem Freund in all den Jahren nicht zurückgegeben) und begann, es noch einmal zu lesen. Es fühlte sich an wie eine völlig neue, nie gelesene Lektüre. Nicht die Kriminalgeschichte war es diesmal, die mich fesselte, sondern die Hintergründe, nicht die Handlung, sondern die Kulisse: die von Unverstand, Intoleranz und Machthunger vergiftete, beklemmend restriktive Atmosphäre, die der mittelalterliche Klerus schuf, bewahrte und verbreitete, die Grausamkeit, mit der er gegen so genannte Ketzer vorging und die Radikalität, mit der er sich gegen die Geistesbildung seiner Untertanen stemmte.
Letztlich war die Lehrstunde bei Frau Magistra Müller doch keine verlorene Liebesmüh gewesen: Ich hatte zu denken angefangen. Dafür danke ich ihr heute noch von Herzen.
3. Wie ein Buch die Zeit relativiert
Das Glück, seit einer halben Ewigkeit mit einer wunderbaren Frau verheiratet zu sein, konnte Umberto Eco mir nicht nehmen (vielleicht hat er ja nur auf die Richtige für mich gewartet). Mittlerweile kenne ich auch viele seiner anderen Bücher, beispielsweise die berauschend kluge und humorvolle Kolumnensammlung „Wie man mit einem Lachs verreist“, aber erst unlängst habe ich begonnen, „Der Name der Rose“ zum dritten Mal zu lesen. Und zum dritten Mal entfaltet sich dieser Roman in einem neuen Licht. Diesmal im Licht einer beängstigenden Aktualität.
Umberto Eco ist vor neun Jahren gestorben, und er hat das das Buch vor mehr als vierzig Jahren geschrieben. Es spielt siebenhundert Jahre vor unserer Zeit, in einer Ära der Inquisition, der Folter und des Aberglaubens, einer Ära des zigtausendfachen Mordes an Missliebigen und Andersdenkenden, kurz: in einem archaischen Entwicklungsstadium unserer Gesellschaft, auf das wir bisweilen mit verständnislosem Kopfschütteln zurückblicken.
Bei Eco spitzt sich die Geschichte auf ein Buch zu, das der blinde Jorge, seines Zeichens Bibliothekar des Klosters, hütet wie der Zerberus das Tor zur Hölle: Aristoteles’ „Zweites Buch der Poetik“, in dem sich der große Philosoph mit der Komödie beschäftigt. Ein nach Jorges Ansicht hochgefährliches, der Lebensfreude und dem Lachen Vorschub leistendes und damit die Autorität der Kirche untergrabendes antikes Werk, das er lieber vernichten würde, als es anderen Menschen zugänglich zu machen.
In den 1980ern, als ich nach Bologna fuhr, um in Florenz zu landen, war so eine Geisteshaltung zwar nicht unvorstellbar, aber keinesfalls gesellschaftsfähig. Den Auftakt zur Tragödie der Nazizeit mit ihren Folterkammern, ihrem Terrorapparat und ihren Millionen Toten hatten schließlich auch Bücherverbote und -verbrennungen gebildet, und die Lehren, die daraus zu ziehen waren, lagen auf der Hand. In allen westlichen Demokratien herrschte Einigkeit darüber, dass faschistisches und autoritaristisches Gedankengut die Welt nie wieder in den Abgrund reißen dürfe.
Wenn man sich nun aber manche der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen ansieht, die seit damals ihren Lauf genommen haben, scheint die von Umberto Eco eindringlich beschriebene Intoleranz und Ignoranz des Mittelalters längst nicht überwunden. Einerseits greift eine überbordende moralisierende Zensurkultur im – nicht nur legitimen, sondern mehr als wünschenswerten – Ringen um soziale Gleichbehandlung um sich, andererseits wird heute eine zunehmende Zahl an Staaten – auch Demokratien – von Autokraten und Reaktionären regiert. Vom Volk gewählt, sind es oft Geister, die man nicht mehr loswird: In den USA, der ältesten Demokratie der Neuzeit, stürmten Anhänger des abgewählten Donald Trump im Jänner 2021 den Kongress, zwei Jahre später starteten Bewunderer des abgewählten Jair Bolsonaro in Brasilien einen ähnlichen Umsturzversuch. Europa hinkt wie immer ein paar Jahre hinterher, tritt aber in die gleichen Fußstapfen: Mit den Regierungen Italiens, Ungarns, Polens und Schwedens pendelt es sich irgendwo zwischen Faschismus und Rechtspopulismus ein.
Zum Abschluss noch einmal die USA: In ihren von Republikanern dominierten Bundesstaaten wurden seit 2021 fast dreitausend Bücher verboten, die sich mit Rassismus, Sklaverei oder sexueller Orientierung auseinandersetzen; alle diese Werke wurden auf Anordnung der Landesparlamente aus den Schulbibliotheken und den öffentlichen Büchereien entfernt. Ob „Der Name der Rose“ auch zu den verbotenen Büchern zählt? Es wäre möglich. Denn von einem blinden, halsstarrigen Mönch zu einem frömmlerischen, populistischen Senator scheint es nur ein kleiner Schritt zu sein. Die Wahrheit ist für beide mehr als unbequem, selbst wenn sie aus dem Mund des Franziskanerpaters William von Baskerville stammt:
„Gott will, dass wir unsere Vernunft gebrauchen, um viele dunkle Fragen zu lösen, deren Lösung uns die Heilige Schrift freigestellt hat. Und wenn uns jemand eine Meinung vorträgt, sollen wir prüfen, ob sie akzeptabel ist, bevor wir sie übernehmen, denn unsere Vernunft ist von Gott geschaffen, und was ihr gefällt, kann Gottes Vernunft schlechterdings nicht missfallen.“
Stefan Slupetzky
Stefan Slupetzky wurde 1962 in Wien geboren. Seit 1991 arbeitet er ebendort als freischaffender Autor wie Illustrator und seit 2005 dramatisiert er Romane und Novellen österreichischer Klassiker für die Festspiele Reichenau. 2005 wurde er für seinen Roman „Der Fall des Lemming“ mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Von 2006 bis 2009 betreute er auf Radio Wien die literarische Ecke von Willi Resetarits‘ sonntäglicher Radiosendung „Trost und Rat“. Neben regelmäßigen Autorenlesungen ist Stefan Slupetzky auch als Texter und Sänger der Wienerliedcombo Trio Lepschi aktiv.