Carolina Schutti und Jhumpa Lahiris „Wo ich mich finde“
Wo ich mich finde.
Auf dem Bürgersteig? Am Ticketschalter? In der Sonne? Vor dem Spiegel? Im Stillen? In ihrem recht schmalen, auf den ersten Blick unaufgeregt wirkenden Roman zeichnet die Autorin Jhumpa Lahiri in 46 kurzen Kapiteln behutsam die Spurensuche einer alleinlebenden Italienerin nach, die – so der Klappentext – „unsicher, scheu, orientierungslos, sich selbst fremd“ regelmäßig Orte aufsucht, die sie gut kennt. Als Universitätsangestellte kann sie auf einen klar strukturierten Tagesablauf und ihren soliden Lebensentwurf vertrauen, doch verhindert ihre selbstgewählte, durchaus sture Zurückgezogenheit das Entstehen tiefergehender Beziehungen. Lediglich ihre betagte Mutter, die sie trotz ihrer schwierigen Beziehung regelmäßig besucht, sowie einige kollegiale und freundschaftliche Verbindungen bilden so etwas wie ein soziales Netz. Emotional betäubt und gleichzeitig scharf in ihren Beobachtungen flaniert sie auf scheinbar immergleichen Wegen durch die Stadt. Wie hoch der Preis für ihr durchaus selbstbestimmtes Leben ist, wird immer deutlicher, und ein Ausflug ans Meer stößt schließlich etwas in ihr an, das sie eine unerwartete Entscheidung treffen lässt.
Jhumpa Lahiri ist mir, soviel gleich vorweg, in mehrerer Hinsicht sehr nahe. Ihre Sprach- und Schreibbiographie, all die Kompliziertheiten in Bezug auf Fremdsein, Heimischwerdung, Identitätsfindung, trafen bei mir einen Punkt, der mich sofort hellhörig werden ließ, als ich zum ersten Mal von der Autorin hörte. Während ich immer noch damit beschäftigt bin, nach Resten meiner Muttersprache zu suchen, recht erfolglos versuche, sie mir wieder anzueignen und irritiert auf den Umstand blicke, dass längst nicht mehr ich die Ausländerin bin, sondern andere meinen Platz eingenommen haben, wählt Lahiri eine ihr völlig fremde Sprache und Kultur, um darin so etwas wie Heimat zu finden.
Anders zu sein bedeutet in Lahiris Fall ein Anderssein auf den ersten Blick. Eine Erfahrung, die ich nie machen musste. Solange ich meinen Mund nicht auftat und mich meine Mutter nicht in allzu merkwürdige Kleidung steckte, fiel ich nicht weiter auf und konnte unerkannt durch die österreichische Gesellschaft treiben. Mit der zunächst erzwungenen, meine sprachlichen Wurzeln nachhaltig zerstörenden Aneignung der deutschen Vater-Sprache landete ich unvermutet auf einem Abstellgleis. Ich musste die bittere Erfahrung machen, das „falsche“ Deutsch gelernt zu haben, mein Hannoveraner Akzent (mein Vater wuchs dort als Kind polnischer Vertriebener auf) kam in Tirol alles andere als gut an und bot in Kombination mit meinem polnischen Nachnamen ausgiebig Anlass für Spott und Ausgrenzung. Mühsam und heimlich, da zuhause verpönt, schmierte ich wenigstens so etwas wie eine Tiroler Aussprache über meine deutschen Sätze, die bis ins junge Erwachsenenalter hinein immer noch Schlaglöcher aufwiesen, tiefgehende Unsicherheiten in Bezug auf Grammatik und Wortwahl. Zuhause war ich in meiner zweiten, nunmehr einzigen, Vatersprache lange nicht.
Jahre später, als mich bei einer Schullesung eine Jugendliche für meine schönen Formulierungen lobte und fragte, ob ich denn beim Schreiben dauernd nachschlagen würde oder tatsächlich alle Wörter auswendig wisse, kamen mir die Tränen.
Jhumpa Lahiri Vourvoulias, so ihr voller Name, wurde 1967 als Kind indischer Einwanderer in London geboren, wuchs auf Rode Island auf, studierte und lehrte unter anderem an der Boston University. In ihren Texten, vornehmlich Kurzgeschichten und Romanen, beschäftigt sie sich unter anderem mit den schwierigen Lebensumständen von Einwanderern in Amerika. Im Jahr 2000 wurde sie mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. 2012 zog sie mit ihrer Familie nach Rom und schrieb eine Zeitlang ausschließlich auf Italienisch, ehe sie wieder zurück nach New York zog, wo sie heute noch lebt und lehrt.
Jede Biografie ist geprägt von einer Mischung aus Gegebenem, aus fremd- und selbstbestimmten Entscheidungen und Handlungen. Sehnsüchte und Erwartungen prägen sich erst im Verlauf eines Lebens heraus, bestimmen häufig die Richtung unserer Gedanken. „Ich denke: Mich erwartet ein neuer Himmel, auch wenn er noch so sehr mit diesem hier verbunden ist“, schreibt Lahiri. Sie hat diesen neuen Himmel am eigenen Leib erfahren, als sie, die nie fließend Bengali konnte und sich in Amerika nicht angenommen fühlte, zunächst ihre Wahlsprache Italienisch lernte und so weit perfektionierte, dass sie in der Lage sein würde, die Fremdsprache als neue Literatursprache zu verwenden. Es sei „Verliebtheit“ gewesen, die sie in die Arme des Italienischen getrieben habe. Ein Dürfen, kein Müssen; ein Verlangen, ein Wollen. Und dennoch: Was für ein Wagnis. Eine erfolgreiche, mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete Autorin, die ausgerechnet die Sprache, in die vermutlich so gut wie jede Autorin, jeder Autor dieser Welt übersetzt werden möchte, zumindest temporär aufgibt, um ihre Literatur in einer ungleich weniger weit verbreiteten Sprache zu verfassen, die sie erst als Erwachsene gelernt hat? Der Grund dafür erscheint freilich einleuchtend: Die Kulturwissenschaftlerin Dagmar Reichardt weist in ihrem klugen, übrigens auch auf Deutsch vorliegenden Aufsatz „Tradizioni e traduzioni nomadi. La tecnica del transcultural switching nell’opera italofona di Jhumpa Lahiri“ darauf hin, dass Lahiri einmal in einem Interview mit der Wochenzeitung „Der Spiegel“ gestanden habe, sie hätte „nie an einem Ort gelebt, an dem ich vollkommen akzeptiert wurde“.
Die „Adoption“ (Lahiri) des Italienischen kann also durchaus als ein Akt der Befreiung und der Selbstermächtigung gesehen werden. Eine Adoption begründet zwar keine Blutsverwandtschaft, bildet aber immerhin ein unzerreißbares, auch formell abgesichertes Band. Wenn auch die emotionale Bindung langsam wachsen muss (wie viel leichter ist es, in einer Fremdsprache zu fluchen, zu schwören, zu gestehen!), so liegt es doch im Wesen jeder Adoption, selbstbestimmt und in vollem Bewusstsein der Tragweite einer solchen Beziehung Verantwortung zu übernehmen.
In ihren italienischen Büchern spielt Jhumpa Lahiri nicht mit der Vermischung von Sprachen, sie betreibt kein mehr oder weniger transparentes Code-Switching, sondern bleibt konsequent innerhalb der Möglichkeiten (und Grenzen) der selbstgewählten neuen Sprach-Heimat. Ihr Stil ist klar und reduziert, Reichhard spricht gar von einer „minimalistischen Ästhetik, tiefgründig authentisch“. Lahiri zieht, so Reichhard weiter, dem Code-Switching das völlige Eintauchen in die Sprache vor. Konsequenz beweist sie auch in der Hinsicht, dass sie ihre italienischen Texte nicht etwa selbst ins Englische übersetzt, sondern diese Arbeit Ann Goldstein anvertraut.
„Wo ich mich finde“ („Dove mi trovo“), 2018 auf Italienisch und zwei Jahre später in der Übersetzung von Margit Knapp auf Deutsch erschienen, ist Lahiris erster Roman in italienischer Sprache. Während sie sich im ebenfalls auf Italienisch erschienen Vorgängerbuch „In altre Parole“ („Mit anderen Worten. Wie ich mich ins Italienische verliebte“) mit den Gründen für den selbstgewählten Sprach- und Kulturwechsel bzw. mit den Konsequenzen, die daraus erwachsen sind, beschäftigt, entfernt sie sich in diesem Roman von der eigenen Biografie und konzentriert sich ganz auf ihre Hauptfigur. Einsamkeit, ein Verlorenheitsgefühl, der Zweifel an der Fähigkeit, an einem Ort Wurzeln schlagen zu können, sind freilich auch hier zentrale Themen. Vergeblich bemüht sich die Ich-Erzählerin darum, ihrem Büro an der Universität so etwas wie Atmosphäre zu verleihen, da helfen auch die von ihr angeschleppten Bilder und Pflanzen nichts: „Es bleibt eine Transitzone, ich werde hier drinnen einfach nicht heimisch. Meine Kollegen neigen dazu, mich zu ignorieren, und ich ignoriere sie. Vielleicht finden sie mich kratzbürstig, abweisend, wer weiß. Wir sind dazu gezwungen, Büronachbarn zu sein, immer anwesend, und trotzdem fühle ich mich am Rand von allem.“ Es scheint, als wäre sie an allen Orten auf Durchreise: überhetzter Aufbruch statt Anwesenheit, Beobachtung statt Teilnahme, unbestimmte Sehnsucht statt Erfüllung.
Auch wenn sie eine beste Freundin hat, bleiben das Vage, das Beinahe-aber-doch-nicht-Ganz das gesamte Buch über schmerzhaft spürbar: „Auf der Straße in meinem Viertel begegne ich manchmal einem Mann, mit dem ich eine Geschichte hätte haben können. Wer weiß, vielleicht sogar eine lebenslange.“ Dazu kommt es nicht, denn der Mann ist der Lebensgefährte ihrer Freundin. Sie hat zwar Affären, doch diese sind flüchtig, ihren Freundschaften mangelt es an Tiefe. Es ist nicht so, dass sie keine sozialen Kontakte hätte, doch man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, sie denke sich lieber in die Leben anderer Leute hinein, anstatt in ihrem eigenen Leben Wurzeln zu schlagen. Manchmal macht es gar den Anschein, dass sie kaum mehr ist als nur eine Hülle ihrer selbst. Dennoch: Sie ist kein Opfer widriger Umstände, sondern eine durchaus moderne Frau, die ihr einsames Leben selbst gewählt hat. „Von jeher fehlt mir der Antrieb“, gesteht sie gegen Ende des Buches, schon als Schulkind sei sie blockiert gewesen. Diese Blockade zeigt sich unter anderem daran, dass sie im Frühling nicht aufblüht, sondern an dieser Jahreszeit leidet. Sie fühlt sich irritiert vom „neuen Licht“ und stellt fest, dass jede bittere Wendung ihres Lebens im Frühling stattgefunden habe. Generell scheint sie keine Freundin von Wendungen zu sein, auch wenn sie sich solche immer wieder herbeiträumt. Kann nicht vielleicht eine Einladung von außen helfen, etwa das Jahresstipendium im Ausland? Die bloße Möglichkeit einer Wiederbegegnung mit einem Philosophen, dessen Bild sie in einer Zeitung sieht? Oder muss sie sich der Tatsache stellen, dass ein bloßer Ortswechsel keine Garantie für ein anderes, besseres Leben ist?
Ich kann nicht sagen, ob Lahiri die Tränen kamen bei der Erkenntnis, alle Wörter, die sie für ihr Schreiben und Leben benötigt, auswendig zu wissen. Eines aber steht fest: Für Lahiri bedeutet der Sprach- und Kulturwechsel mehr als Selbstbestimmung und Freiheit: „Das ist mein Wohnsitz”, schreibt sie in ihrem Buch, „er besteht aus den Wörtern, die für mich die Welt bedeuten.“
Carolina Schutti
Carolina Schutti wurde 1976 in Innsbruck geboren, wo sie heute lebt. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Amerikanistik. Nach ihrer Promotion über Elias Canetti war sie Lektorin an der Universität Florenz, ehe sie 2010 ihr Debüt „Wer getragen wird, braucht keine Schuhe“ publizierte. Sie verfasste Hörspiele, Novellen Texte für interdisziplinäre Theaterprojekte, Romane und einen Lyrikband. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet sowie in siebzehn Sprachen übersetzt. 2023 erscheint ihr neuer Roman „Meeresbrise“.